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Kunst ist – die Herausforderung anzunehmen

Eduard Beaucamp schrieb über die VIII. Leipziger Bezirkskunstausstellung: „Bis zur Identifikation reden wir von einer New Yorker Schule, wie zuvor die École de Paris geläufig war – aber hat jemand schon einmal von der Leipziger Schule gehört? (…) Kunst, das wird hier klar, ist nicht Sache eines Kollektivs, sondern Sprache von Künstlerindividualitäten für ein mögliches Kollektiv.“ Der Begriff „Leipziger Schule“ wurde in den frühen 70er Jahren geprägt. Zu den Gründervätern der bejubelten, aber auch umstrittenen Kunstrichtung zählen Werner Tübke, Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer, die 1977 auch auf der documenta 6 vertreten waren. Sie alle studierten an der Leipziger Kunstakademie, der heutigen Hochschule für Grafik und Buchkunst, wo sie später als Lehrer wirkten. Zu ihren Schülern gehörten die Leipziger Malereiprofessoren Sighard Gille und Arno Rink, die als zweite Generation der Leipziger Schule bekannt wurden. Die dritte Generation wird als „Neue Leipziger Schule“ bezeichnet.

Damals wie heute fällt es schwer, mit dem Begriff „Leipziger Schule“ umzugehen, gerade,wenn es so unterschiedliche stilistische und inhaltliche Ansatzpunkte gibt wie hier. Immer stand jedoch der hohe handwerkliche Anspruch im Mittelpunkt dieser Kunstströmung. Arno Rink plädiert für einen vorsichtigen Umgang mit dem Überbegriff „Leipziger Schule“. Zur Ausstellung „made in Leipzig“ vor genau einem Jahr schrieb er: „Das Problem für mich ist einfach, dass die alte Leipziger Schule immer nur herhält zur Erklärung möglicher Erscheinungsbilder in der Neuen Leipziger Schule. Wenn jemand heute Neue Leipziger Schule sagt, dann ist das wie ein pavlowscher Reflex, da geht bei manchen Leuten der Speichelfluss los. Wenn man fragt, was die Leipziger Schule ist, dann sagen sie sechs, sieben bekannte Namen.“ Allen voran natürlich Neo Rauch, der 1993 Assistent von Arno Rink wurde und dessen Werke mittlerweile Rekordsummen erzielen. Einer der Kommilitonen von Neo Rauch war Bruno Griesel.

Bruno Griesel, 1960 in Jena geboren, hat zwischen 1981 und 1986 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig bei Volker Stelzmann, Wolfgang Peuker und Bernhard Heisig studiert, dessen Meisterschüler er bis 1989 war. Seit 1986 ist Griesel als freischaffender Künstler in Leipzig tätig und hat dort seit 1991 mit einigen Unterbrechungen sein Atelier im Specks Hof. Für den Lichthof dieses Gebäudes schuf Griesel 1995 auch einen Bildfries mit dem Titel: „Psychologie der Zeit“. Der Leipziger Kunsthistoriker Günter Meißner fasste einige Kennzeichen der Leipziger Malerei folgendermaßen zusammen, Merkmale, die auch auf Bruno Griesel zutreffen: „Es sind dies der Drang zur gedanken- und phantasiereichen, tiefgründigen Deutung von den Themen der Geschichte bis zu intimen Bereichen unserer Umwelt sowie der Neigung zu einer gegenstandsbetonten, aber ausdrucksstarken Auffassung zwischen den Polen zeichnerisch-klarer Detailgebung und malerischer Bewegtheit.“ Bruno Griesel ist Maler in einem ganz im traditionellen Sinn. Er thematisiert die Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte vom Barock bis zur Moderne. Griesel schafft Verbindungen zwischen den einzelnen Epochen, greift auf die Vergangenheit zurück und weist ins Neue, noch Unbekannte.

„Mein Werk teilt meine persönliche Geschichte in Farbphasen“

Im Laufe seines Schaffens hat der Künstler verschiedene Phasen seiner künstlerischen Entwicklung durchschritten. Er ist Zeichner und Grafiker, beschäftigt sich mit der Lithografie und schafft wunderbare Arbeiten im Steindruckverfahren. Als Maler ist für ihn die Farbgebung seiner Arbeiten ganz wichtig. „In meinem Leben habe ich einige Farbperioden festgestellt“, so Griesel, „jedoch jeglichen eindeutigen Symbolgehalt, sowie einen Zusammenhang zwischen Farbwahl und meiner psychischen Befindlichkeit abgeschritten.“ Zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit steht die Farbe Rot als Ausgangspunkt. Die Haut des menschlichen Porträts und Akte werden im expressionistischen Gestus mit kräftigen Rottönen ausgeführt. Durch die Farbwahl wird die Haut der Modelle regelrecht belebt, Rot strahlt Wärme aus. 1987 schwächt der Künstler das Rot ab und wendet sich dem kühleren Violett zu. Diese Phase dauert drei Jahre, bis er zwischen 1990 und 1995 das Blau favorisiert. Der warme rote Körper hat sich zur transparenten, fast gläsernen Hülle entwickelt.

Die Grüne Phase, die nur zwei Jahre dauert, leitet bereits die Gelbe Phase ein, die zwischen 1997 bis 2000 gleichzeitig auch eine Wende, neue Lichtblicke symbolisiert. Es war eine Zeit, in der Bruno Griesel sich in Italien aufgehalten und die mediterranen Farben dieses Landes und das dortige Lebensgefühl verinnerlicht hat. „Das Jahr 2000 stellt einen Wendepunkt in meiner Farbsympathie dar. Gelb ohne Schatten hat mich mit 40 Jahren an meine Grenzen geführt.“ Daraus resultierend folgen bis 2003 die Erdfarben, über die er bis heute zum reinen Weiß gelangt ist. Die Farben transportieren auch poetische Bildinhalte. In allen Phasen seines Schaffens bleibt er seinen Motiven treu:Vor allem Akte und Tänzerinnen prägen seine Bilder. Stilistisch knüpft Bruno Griesel an vergangene Kunstströmungen an. Er überführt die Arbeiten der alten Künstler in einen aktuellen Kontext. Stark verbunden ist er vor allem dem Expressionismus und dem Symbolismus, wobei seine Figuren vor mythologischen und biblischen Folien agieren. Bezüge zu Max Klinger,Gustav Klimt und Egon Schiele sind unverkennbar.

Beschäftigung mit dem Rokoko

Ganz wichtig ist für Bruno Griesel die Beschäftigung mit dem Rokoko, seine Hommage an das 18. Jahrhundert. Er nennt sein Projekt, das er 2005 begonnen hat, bewusst „Rococo“, bedient sich der französischen Schreibweise, da die Form des Buchstabens „C“ besser zur Ausdrucksweise des künstlerischen Stils passe. Die „Rocaille“ (franz.: Muschelwerk) soll der Namensgeber für das Rokoko gewesen sein.Die Muschel hat auch etwas mit einem Lebensabschnitt des Künstlers zu tun. Genauer gesagt, die Ohrmuschel. Der Künstler litt 2000 am Verlust des Gleichgewichts und an Tinnitus.

Durch die Erkrankung des Innenohrs werden hohe Geräusche extrem schmerzvoll wahrgenommen – eine einschneidende Erfahrung für den Künstler. In der Leichtigkeit des Rokoko, in der Verkörperung der Schönheit und Sinnlichkeit, im ästhetischen „Muschelwerk“, fand er das Pendant zur äußerst negativen Beeinträchtigung durch den Knorpel seines inneren Ohres, der Quelle des Schmerzes. In der Kunst des 18. Jahrhunderts, der Zeit arkadischer und erotischer Traumwelten, fand er neue schöpferische Kraft. Mozart und Jean-Philippe Rameau prägten die Musik der Zeit, und in der Kunst sprach man von Tiepolo oder Antoine Watteau.Die Farbe Weiß, die nun für Griesel wichtig wurde, fand er im reinen Porzellan des Rokoko, das europaweit Verbreitung fand.

Theaterwelten: Die Faszination des Pierrot

Tatsächlich bewundert der Künstler die Werke von Watteau besonders.Watteau, der schon jung, im Alter von 36 Jahren, an Tuberkulose starb, hat trotz seiner Leiden eine große Anzahl von Bildern geschaffen, die den heiteren Lebensgenuss verherrlichen und die ganz im Gegensatz zu seinem melancholischen Temperament stehen. Die Welt des Theaters, der Commedia dell’arte und besonders die Figur des Pierrots faszinierten Watteau und faszinieren auch Bruno Griesel. Die berühmte Figur des traurig blickenden „Gilles“ von Watteau (1771) inspirierte den Leipziger Künstler. „Gilles“, der wie eine erstarrte Figur ohne Lebenslust und Freude vereinsamt im Bildvordergrund steht, wird beiGriesel in dem Gemälde „Weiß - Pierrot Lunaire“, 2005/2006, zu einem Pierrot, der in der Bewegung, wie in einer Pantomime, innehält.Weiß kostümiert, blickt er traurig, wie vom Lebensfrust gebeugt.

Vor ihm stehen unterschiedlich große Löwen, zwei weiße und ein kleiner in goldener Farbe.Die Löwen symbolisieren Herrschaft und Stärke. Die goldene Farbe kann ein Verweis auf die Sonne sein und das Weiß ein Verweis auf den Mond. Richard Hüttel schrieb dazu folgendes: „Der künstliche Gesichtsausdruck und die balletthafte Gestik machen gerade an dieser Figur deutlich, dass da einer eine Rolle spielt, dass hier Verwandlungen durchgespielt werden, performative Möglichkeiten des Individuums.“ Griesel hat den Pierrot 2007 noch einmal variiert. In „Pierrot mit Pfauengruppe“ hält die gleiche Figur mit anderem Gesicht zwei weiße Pfauen, in Anlehnung an die Nymphenburger weiße Pfauengruppe, in den Händen. „Der Pierrot steht für das Weiß, als die Summe der Teile“, so der Künstler. Die Vögel können nicht wegfliegen, auch wenn sie eine farbige Pfauenfeder im porzellanenen Gefieder stecken haben. Es ist abermals eine traurige Figur, gefesselt im eigenen Ich, unbeweglich. Der melancholische Pierrot war auch ein beliebtes Motiv von Picasso. Vielleicht ist der Pierrot bei jedem Künstler auch ein bisschen ein Selbstporträt?

Das schwarze Quadrat

In zwei großformatigen Bildern bringt Bruno Griesel eine neue symbolträchtige Figur in seine Bildwelt. Es ist dies der Engel. In den zwei Bildern,„Schwarzes Quadrat auf weißem Grund I“, 2007 (150 x 200 cm) und „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund II“, 2007 (150 x 200 cm), setzt sich Griesel mit dem Suprematismus und dem Hauptvertreter der abstrakten russischen Kunst, Kasimir Malewitsch, auseinander, der über die Abstraktion zur gegenständlichen Malerei zurückgelangte.

Für die künstlerische Selbstfindung war für Malewitsch die Mitarbeit an der avantgardistischen Oper „Sieg über die Sonne“ entscheidend, für die er das Bühnenbild und die Kostüme gestaltete. Das antinaturalistische „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“ war dabei das letzte Bühnenbild. 1915 stellt Malewitsch zum ersten Mal sein „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ (79 x 79 cm) aus, seitdem verstand er es als „Ikone der neuen Kunst“, die er zu begründen hoffte. Inwieweit Bruno Griesel seine Bilder als „Ikonen“ verstanden haben möchte, beantwortet er selbst. A.L.: Herr Griesel, wann haben Sie die beiden Bilder „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ begonnen? B.G: Im Frühjahr 2007, 3.00 Uhr nachts, den Tag habe ich vergessen. Ich blätterte mich durch das Buch der Gebrüder Wright. Ich sah die Fahne.Die Fahne war mir Zeichen, Orville: Signal,Wilbur Wright: Flagge und Kasimir: Ikone.

Was ist auf Ihrem Bild zu sehen? Eine männliche Figur nach fotografischer Vorlage von 1909. Sie zeigt den Flugpionier Wilbur Wright mit einer weißen Signalfahne, auf der ein schwarzes Quadrat appliziert ist. Zwei steinerne Engel des Düsseldorfer Bildhauers Johann Jakob Junckers begleiten ihn in profaner Landschaft. In Fassung II hat sich einer der Engel dreigeteilt. Malewitsch hielt in einer Selbstäußerung fest: „Als ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellte ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld (…). Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“ Das weiße Feld bedeutete für ihn die Leere hinter dem Quadrat. Sie haben ein kleines schwarzes Quadrat auf eine weiße Fahne gemalt. Der Titel stellt den Bezug zu Malewitsch her. Ist Malewitsch notwendig zum Verständnis? Zum Verständnis schon! Malewitsch begründet mit dem „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ den Suprematismus, das Alpha und das Omega der Moderne, den Punkt Null, aus dem alles möglich ist und in den alles zurückfällt.Wobei der Begriff der Moderne ein sehr dehnbarer Begriff geworden ist. Fakt jedoch ist, er wollte mit all den zur Verfügung stehenden Vätern brechen. Ich habe nur einen Vater, und mit dem möchte ich nicht brechen.

Die „Empfindung der Gegenstandslosigkeit und der Leere“ stellt sich bei Ihren Bildern nicht ein, da Sie das suprematistisches Zeichen des Quadrats in einen historischen, figürlichen Kontext stellen. Malewitschs Bild wurde auf der Ausstellung 1915 an der höchsten Stelle einer Raumecke mit der Bildfläche schräg nach unten positioniert. Damit nahm es die Funktion einer religiösen Ikone ein. Betrachten sie ihre Bilder auch als eine Art „Ikonen“? Die Ikone meint das Abbild, das wahre Bild, welches zum Kultbild avancierte und nicht das Idol, welches leicht vom Traumbild zum Trugbild mutiert. In diesem Sinn möchte ich schon, dass meine Version vom Schwarzen Quadrat auf der Folie der Ewigkeit zur Ikone wird.

Annette Lobbenmeier

Kunst & Material
Mai/Juni 2008